Ukrainische Forscherin an der Empa

«Ich habe eine Verantwortung, jetzt zu reden»

08.04.2022 | ANDREA SIX
Die ukrainische Physikerin Oksana S*. ist von Moskau in die Schweiz geflohen. Nach einem stapaziösen Weg über Polen startet die Forscherin nun im «Advanced Analytical Technologies»-Labor der Empa. Im Interview erzählt sie, wie ihr die Flucht gelang und warum auch Russland ihre Heimat ist.
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Zwischen zwei Welten: Oksana S. empfindet die Ukraine und Russland als ihre Heimat. Nun hat sie beide verloren. Bild: Empa

Empa: Oksana S., Sie mussten als ukrainische Forscherin aus Russland flüchten. Wann wurde Ihnen zum ersten Mal bewusst, dass Sie es geschafft hatten?

Oksana S.: Das war, als ich in einem kleinen polnischen Bahnhof auf den Zug nach Warschau wartete und dort die vielen anderen Flüchtenden sah. Ich war so müde und hungrig, und mir wurde klar, dass es nicht nur meine Landsleute sind, die um mich herum meine Sprache sprechen, sondern Menschen, die wie ich alles zurückgelassen hatten, ihr Zuhause, ihre Sachen, einfach alles. Das war ein sehr schmerzhafter Moment. Gleichzeitig gab es gute Momente, als ich Unterstützung von Landsleuten bekam, die bereits länger in Polen waren und mir halfen, den richtigen Zug zu finden. Und als die freiwilligen Helferinnen und Helfer Tee und Sandwiches verteilten, dachte ich, wie merkwürdig das alles ist: Ich fliehe aus Russland in die Deutschschweiz und esse ein «Butterbrot» – denn im Russischen verwendet man dieses deutsche Lehnwort für ein Sandwich.

Wie kamen Sie zu dem Entschluss, von einem Moment auf den anderen ihre Stelle an einem Forschungsinstitut in Moskau aufzugeben und alles zurückzulassen?

Ich habe am Lebedev-Institut in der Physik-Grundlagenforschung gearbeitet. Ich habe mich für die Kathodolumineszenz, also das Leuchten von Kristallstrukturen, die mit elektromagnetischer Strahlung angeregt werden, interessiert. Dabei ging es mir um neue Materialien in Pulverform als Grundlagen für Leuchtdioden. Das Institut hat einen guten Ruf, und ich habe sehr gerne in meinem Team gearbeitet und auf dem Campus gelebt. Ich wollte eigentlich nicht weg. Dann gab es innerhalb weniger Tage immer mehr bedrohliche Anzeichen. Zuerst hatte der Direktor des Departements am Tag nach dem Kriegsbeginn offiziell erklärt, dass ukrainische Forschende nichts zu befürchten hätten. Wir seien sicher, hiess es. Nach weiteren drei Tagen wurden aber ukrainische Freunde von mir zur Verwaltung zitiert und im Beisein von Regierungsbeamten ausgefragt. Ihre Chats auf ihren Mobiltelefonen wurden kontrolliert, und bei manchen wurden die Zimmer durchsucht. Das sei zu ihrer eigenen Sicherheit, sagte man ihnen. Uns allen hat das grosse Angst gemacht. Was mich dann sofort zum Handeln brachte, war die Nachricht über einen Kollegen, der nach Riga reisen wollte und von der Polizei festgenommen wurde. Fünf Tage haben sie ihn festgehalten. Da wusste ich, dass ich gehen muss – so bald wie möglich.

Zur Person

Oksana S., 23, stammt aus der Stadt Mykolajiw in der Küstenregion des Schwarzen Meers im Süden der Ukraine. Als besonders begabte Schülerin erhielt sie ein Stipendium, um Physik und Chemie in Moskau zu studieren. Ihren Bachelor schloss sie unlängst im Fachgebiet Optik mit Grundlagenforschung zur Kathodolumineszenz ab. Ab April wird sie die erste geflüchtete ukrainische Wissenschaftlerin sein, die an der Empa startet.

*Nachname auf Wunsch abgekürzt.

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Morgens und abends ein Lebenszeichen von der Familie: Oksana Shliakhtun hilft sich mit ihrer Arbeit an der Empa durch den Tag. Bild: Empa

Wie sind Sie vorgegangen?

Geld hatte ich keins, denn in Moskau lebte ich von einem Stipendium. Ich habe meine Professoren nach ihren internationalen Forschungskontakten gefragt und habe diese Teams angeschrieben. Davide Bleiner, der Leiter des «Advanced Analytical Technologies»-Labor der Empa, hat sofort Hilfe angeboten.

Und dann musste es schnell gehen – und durfte vermutlich nicht auffallen?

Es gab bereits keine Flüge mehr aus Russland heraus. Also buchte ich einen Flug nach Kaliningrad. Von da aus würde ich irgendwie über die Grenze nach Polen gelangen, dachte ich mir. Ich hatte mir überlegt, dass ich nur einen kleinen Koffer mitnehmen konnte, weil ich vielleicht lange laufen müsste. Ich habe also mein Laborjournal eingepackt, Wasser, ein paar Kleider und ein russisches Buch über ein Forschungsinstitut für Magie. Auf dem Weg zum Flughafen, an den Metrostationen, überall hatte ich Angst, man könnte mich nach meinem Pass fragen, meinem ukrainischen Pass. Aber tatsächlich wurde ich erst nach der Landung in Kaliningrad aufgehalten. Mein Pass wurde mir abgenommen und ich musste mit anderen Menschen aus der Ukraine warten. Sicherheitshalber habe ich in dieser Zeit alles auf meinem Telefon gelöscht. Schliesslich haben mich vier Männer in einem kleinen Raum ausgefragt. Das hat mich ziemlich gestresst – und dann wurde tatsächlich mein Handy kontrolliert. Ich habe gesagt, ich würde einen Familienbesuch in Polen machen und würde wieder zurückkommen, weil ich ja in Moskau arbeite. Irgendwann durfte ich dann einfach gehen.

Aber Sie waren noch immer in Russland …

Ich habe ein Taxi zur Grenze nach Polen genommen. Und da habe ich mich dann das erste Mal gefragt: «Was macht Du hier eigentlich?» Ich hätte doch einfach umdrehen können, in Moskau bleiben, wo ich vielleicht doch sicher wäre, Essen hätte, einen Job. Ich habe sechs Jahre in Moskau gelebt, habe Freunde, Nachbarn. Russland wurde genauso zu meiner Heimat wie die Ukraine. Jetzt würde ich beide verlieren und nicht mehr zurückkönnen. Ich bin trotzdem an der Grenze ausgestiegen. Hier wurde ich wieder in einem kleinen Raum ausgefragt, musste den Pass und das Handy abgeben, warten. Man hat mich fotografiert und meine Fingerabdrücke genommen, wie bei einem Verbrecher. Ich war erschöpft und hatte unglaubliche Angst. Und plötzlich machen sie die Tür auf, und ich konnte gehen. Nach einem weiteren Checkpoint stand ich auf der polnischen Seite auf einem Feld. Ich dachte, das ist das absolute Nichts hier, nur ich, mein Koffer und eine Birke, und hinter mir Russland. Irgendwann kam ein Bus in ein Dorf, dort kam irgendwann ein Bus in eine Kleinstadt mit einem Bahnhof. Bis ich da war, war es bereits nachts.

Über Warschau reisten sie schliesslich in die Schweiz. Wie war Ihre Ankunft?

Weil ich in Warschau eine Nacht warten musste, bis die Flugticketpreise am Folgetag günstiger waren, konnte ich endlich etwas schlafen. Als David Heusser von der Empa am Zürcher Flughafen auf mich wartete, wusste ich erstmals, jetzt bin ich sicher. Ich bekam eine Unterkunft und die Gelegenheit in einem neuen Forschungsteam zu starten.

Haben Sie Kontakt zu Ihren Kollegen, die noch in Moskau sind?

Ich bin nicht die Erste, die aus Moskau geflohen ist – und auch nicht die Letzte. Aber die, die noch da sind, sind verängstigt. Sie können sich nicht konzentrieren, nicht arbeiten. Und ihre Situation wird sich nicht verbessern. Per Handy kommuniziere ich jeden Morgen und Abend kurz mit meiner Mutter in der Ukraine. «Wir sind ok. Wir sind am Leben», schreibt sie. Manchmal ist zuwenig Strom da, und sie kann das Handy nicht aufladen, und ich muss warten, bis ich wieder von ihr lese.

Was hilft Ihnen in diesen Zeiten, den Tag zu überstehen?


Die Arbeit im Labor, im Team, das hilft mir. Sie hält mich praktisch am Leben. In Moskau habe ich meinen Kater, Cupcake, zurückgelassen. Er lebt jetzt bei meinem Nachbarn. Der Nachbar schickt mir täglich Fotos von Cupcake. Das tut mir gut. Und ich würde gerne andere Menschen, die flüchten mussten, unterstützen.

Wie möchten Sie Flüchtenden helfen?

Ich habe beim Bundesasylzentrum Zürich gesehen, wie schwierig für viele Schutzsuchende die Verständigung ist. Ich könnte mit englischer Übersetzung aushelfen oder bei der Suche nach Unterkünften und bei den Formalitäten helfen. Ich habe mich bereits nach Freiwilligenarbeit erkundigt. Und vielleicht kann meine Geschichte helfen, eine weitere Perspektive aufzuzeigen: Die Menschen in der Ukraine sind jetzt in einer unfassbar schwierigen Situation. Aber in Russland ist es für die Menschen aus der Ukraine auch sehr gefährlich. Ich finde, darüber sollte man auch reden.

Machen Sie sich keine Sorgen um Ihre eigene Sicherheit, wenn Sie sich so offen äussern?

Ich bekomme fast täglich Telefonanrufe von russischen Behören mit der Aufforderung, mich in Moskau zu melden. Das ist nicht gerade angenehm. Aber ich habe eine Verantwortung, jetzt zu reden.

Wie reagierten Ihre russischen Arbeitskollegen auf den Krieg?

Ich habe vor der Flucht mit russischen Professoren gesprochen, die uns Ukrainern helfen wollten, und die sehr enttäuscht waren über die Entwicklungen. Ich hatte das Gefühl, die Russen, die mir begegnen, sind gegen den Krieg. Aus Überzeugung und weil sie die negativen (wirtschaftlichen) Folgen im Alltag spüren. In der Ukraine ist so viel Hass entstanden gegen alles Russische. Ich versuche, wenn ich hier in der Schweiz mit Ukrainern spreche, zu erklären, dass ich beide Seiten kenne und in Russland sehr wohl auch gute Menschen sind. Ändern aber können nur die Russen diese Situation. Nur schweigend dagegen sein, hilft dabei nicht. Aber es ist leicht gesagt: «Macht eine Revolution!» …

Redaktion / Medienkontakt

Dr. Andrea Six
Kommunikation
Tel. +41 58 765 6133
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Audio

Interview mit der Forscherin auf srf4, Rendez-vous, vom 8.4.2022