Historisches Ereignis

Radioaktivitätsalarm an der Empa

13.09.2021 | KARIN WEINMANN / ANDREA SIX

Am 26. August 1992 melden sich zwei Personen am Empfang der Empa in Dübendorf. Sie haben zwei Proben Osmium 187 dabei – ein seltenes und äusserst wertvolles Isotop des Platinmetalls –, die sie analysieren lassen möchten. Dazu ist ein anorganisches Massenspektrometer notwendig, von denen es in der Schweiz zu dieser Zeit nur 11 Stück gibt, eines davon an der Empa. Peter Richner, Chemiker und Leiter der Gruppe für Spurenanalytik (und heutiger stellvertretender Direktor), ist der einzige, der an der Empa auf solche Analysen spezialisiert ist. Er nimmt sich des Auftrags an.

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«Der Geigerzähler beginnt alarmierend zu pfeifen...» als sich die historischen Ereignisse im Jahr 1992 entfalten. Bild: istock

Richner wundert sich, dass die Proben in Metall eingeschweisst sind anstatt wie normalerweise üblich in Glasampullen abgefüllt. Er schüttelt die Metallzylinder, in denen das Material eingeschweisst ist. Noch bevor er das Labor mit der Röntgenanlage betritt, beginnt dessen Geigenzähler alarmierend zu pfeifen. Richner denkt zunächst an einen Defekt des Geigerzählers und ruft seinen Chef, den Abteilungsleiter Heinz Vonmont. Dann geht es sehr schnell: Der Pikettdienst des Paul Scherrer Insitituts (PSI), Strahlenschutzexperten der Suva, Polizei und Justiz werden aufgeboten, die Zylinder strahlensicher isoliert.

Das PSI analysiert die Proben. Es zeigt sich: In den Metallzylindern befindet sich nicht Osmium 187, sondern hochradioaktives Cäsium 137. Der erst 25-jährige polnische Auftraggeber, Mirek Barczyk, wird mit drei weiteren Verdächtigen verhaftet. Es stellt sich heraus, dass Barczyk keine Ahnung hatte, was sich wirklich in den Probebehältern befand. Zwei Tage, bevor er bei der Empa auftauchte, hatte er in Lettland einem Ukrainer für die aus einem Labor gestohlenen Proben sein gesamtes Erspartes – rund 10'000 Dollar – hingeblättert. Er wollte sich in der Schweiz ein Zertifikat dafür ausstellen lassen, um das begehrte Osmium an Interessenten in Westdeutschland weiterzuverkaufen. Um das kostbare Material sicher aufzubewahren, behielt er es auf der zweitätigen Reise von Vilnius in die Schweiz in einer Streichholzschachtel in seiner Brusttasche. Eine fatale Entscheidung, wie er nun erfährt: Er hat noch vier Monate zu leben, heisst es. Therapiemöglichkeiten gibt es keine. Barczyk wird freigelassen und reist zurück nach Polen.

Auch Peter Richner macht sich Sorgen: Er hat die Probe einige Minuten in den Händen gehalten. Doch beide haben Glück im Unglück. Barczyk's Blutwerte normalisieren sich – er überlebt. Auch Richners Untersuchungsresultate sind beruhigend, er behält alle Finger.

Der Vorfall hat bis heute Auswirkungen auf den Empa-Alltag: In der zentralen Warenannahme steht seither ein Geigerzähler, mit dem jede unbekannte Lieferung kontrolliert wird.

Diese und viele weitere faszinierende Geschichten, wie sich die Empa von einem bescheidenen Kellerlabor an der ETH Zürich als Prüfstelle für Baumaterialien zum modernen Forschungsinstitut entwickelt hat, finden sich im Buch «Viel mehr als Materialen», das die Empa kürzlich veröffentlicht hat.

Die journalistische Aufarbeitung des Ereignisses ist derzeit erneut in den Fokus gerückt anlässlich des 30-Jahre Jubiläums des NZZ-Folios.