Alterung von Hochspannungsleitungen überwachen

Kampf gegen kriechende Kabel

22.12.2016 | THOMAS GSCHWIND
Schweizer Überlandleitungen leiden unter Alterserscheinungen und können durch Strom-Überlast beschädigt werden. Wie lange halten sie noch? Empa-Forscher ­haben ein Tool entwickelt, mit dem sich der Alterungsprozess überwachen lässt.
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Das Schweizer Stromnetz besteht aus mehr als 250 000 Kilometer Leitungen. Zusammengesetzt aus Übertragungs- und Verteilnetz wird die Spannung auf dem Weg zum Konsumenten darin stufenweise von 380 000 auf 230 Volt reduziert. 6700 Kilometer misst das überirdische, teilweise mehr als 40 Jahre alte Übertragungsnetz. Es genügt den heutigen Anforderungen nur noch teilweise, da es für deutlich kleinere Strommengen aus mehrheitlich zentralen Kraftwerken ausgelegt ist. Heute werden deutlich grössere Mengen Strom transportiert, und immer mehr dezentrale (Klein-)Kraftwerke speisen Strom aus erneuerbaren Energien ins Netz. Die Leitungen werden also immer stärker belastet und dadurch immer heisser. Da die Schweizer Hochspannungsleitungen fast ausschliesslich aus einer Aluminiumlegierung bestehen, jene aus unseren Nachbarländern aber meist als Verbundleiter aus reinem Aluminium und Stahlkern zusammengesetzt sind, lassen sich internationale Forschungsergebnisse nur bedingt auf hiesige Verhältnisse übertragen. Es braucht also nationale Forschung.

Seit 2012 befasst sich eine Forschergruppe an der Empa unter der Leitung von Edoardo Mazza und Stuart Holdsworth mit den Freileitungskabeln der Schweiz. Dafür haben sie eigens eine sieben Meter lange Testanlage gebaut, die es erlaubt, die Eigenschaften der kompletten Leiterkabel, aber auch der einzelnen Leiterdrähte zu untersuchen. Die in den Stromleitungen verwendete Speziallegierung namens Aldrey besteht zu 99 Prozent aus Aluminium, zu 0,5 Prozent aus Magnesium und zu 0,5 Prozent aus Silizium. Der Vorteil dieser Leiter: Sie sind sehr leitfähig, dabei korrosionsresistenter und zugfester als reines Aluminium, sie sind bei gleicher Zugfestigkeit aber auch leichter als die stahlverstärkten Leitungen der Nachbarländer.

Die Kapazität des heutigen Stromnetzes wird durch mehrere Faktoren begrenzt. Zunächst einmal weiss man nicht, wo die wirkliche Belastungsgrenze der Leitungen ist, sie wird lediglich geschätzt. Konkrete Zahlen und Analysen gab es bislang nicht. Mit der Empa-Anlage konnten die Aldrey-Drähte nun erstmals über 20 000 Stunden lang bei Temperaturen zwischen 0 und 150 Grad untersucht werden. Bei Temperaturen unter 100 Grad stellten Holdsworth und sein Team keine beschleunigten Alterungsprozesse und keinen erhöhten elektrischen Widerstand fest. Steigt die Temperatur auf über 100 Grad, nimmt der elektrische Widerstand und mit ihm der Leitungsverlust zu, solange die Kabel heiss sind. Zugleich altern die Kabel schneller, die Festigkeit der Aldrey-Legierung lässt dauerhaft nach.

Fernüberwachung des Alterungsprozesses
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Ein wichtiges Problem im Schweizer Stromnetz ist das allmähliche Durchhängen der Hochspannungskabel. Diese Art der Verformung ist nicht reversibel, was bedeutet, wenn sie einmal durchhängen, müssen sie durch einen Reparaturtrupp nachgespannt werden. Auch das Durchhängen hat mit der thermischen Vergangenheit der Leitungen zu tun: Wie lange hängt die Leitung schon am Mast – und wie heiss ist sie über welchen Zeitraum geworden? Im Empa-Labor haben die Forschenden weit verbreitkkete Leiter mit einem Durchmesser von drei Zentimeter, bestehend aus 61 einzelnen Drähten, untersucht, um die vorausberechneten Werte über das Durchhängen zu verifizieren. Dabei wurde das Durchhäng-Verhalten während 2000 Stunden und bei Temperaturen bis zu 80 Grad analysiert. Aluminium – also auch die Aldrey-Legierung – neigt im Vergleich zu anderen Metallen schon bei tiefen Temperaturen zum «Kriechen». Die Drähte verlängern sich im Lauf der Zeit, sodass sich der Durchhang der Leitung vergrössert und der Abstand vom Boden abnimmt.

Zwei verschiedene, an der Empa entwickelte Messmethoden könnten künftig Hinweise liefern, wann eine Leitung ihre Altersgrenze erreicht hat. Bei der «Offline-Messung» wird ein Stück der Leitung herausgeschnitten und auf ihre mechanische Härte geprüft. Anhand eines Vergleichs mit einem Referenzstück kann so der Zustand, also auch die Alterung, exakt bestimmt werden.

Die «Online-Messung» kann den Alterungsprozess sogar aus Widerstandsmessungen der Leitung im Betrieb ermitteln. Dadurch wird eine Fernüberwachung alternder Leitungen möglich. Die Resultate der Messungen können helfen, das bestehende Schweizer Stromnetz besser zu nutzen und zugleich instand zu halten. Nun hat die Suche nach einem Industriepartner begonnen, mit dem das Konzept zur Zustandsüberwachung von Hochspannungsleitungen zur Marktreife entwickelt werden kann.

Informationen

Dr. Stuart Holdsworth
Mechanical Integrity of Energy Systems
Tel.: +41 58 765 47 32

 


Redaktor / Medienkontakt
Dr. Michael Hagmann
Kommunikation
Tel. +41 58 765 45 92
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